Beim Scharfrichter in der Folterkammer – ein Selbstversuch

Wer auf Reisen ist, kann sich bei einer Stadtführung einen Überblick zu den Besonderheiten des Reiseziels verschaffen. Aber eine Stadtführung in der eigenen Heimatstadt – bringt das etwas? Man kennt sich doch längst aus. Oder etwa nicht?

Wir wählten eine Respekt einflößende Persönlichkeit als unseren Lehrmeister: den Scharfrichter Hans Zinke, geboren um 1450. Der empfing uns, trotz des Sonnenscheins finster dreinblickend, auf der Treppe des historischen Rathauses. Einen Galgenstrick hatte er schon mitgebracht. Doch er beruhigte uns: ohne Verurteilung wird niemand gehenkt.

Unsere Gruppe bestand zum größten Teil aus Eichsfeldern: Duderstädter, Nesselröder, Immingeröder und Germershäuser. Aber auch eine Hamburgerin und zwei Kasselerinnen waren dabei, denen zum Beispiel der Anreischke nichts sagte. Einheimische wissen: Zu jeder ungeraden Stunde nickt die Duderstädter Symbolfigur während des Glockenspiels aus dem Fenster des Rathausturms. Allerdings hat der Holzkopf zurzeit Urlaub, da das Glockenspiel reparaturbedürftig ist. Und da stellte sich gleich der erste Irrtum heraus: Der Anreischke kann gar nicht – wie allgemein angenommen – den polnischen Festungsbaumeister Andreas verspottend darstellen. Jener wurde um 1500 mit der Stadtbefestigung beauftragt, doch das Original des hölzernen Neidkopfs ist älter. Heute steht der echte Anreischke gut abgesichert im Rathaus in einer Glasvitrine neben der Folterkammer – dem Arbeitsplatz des Scharfrichters.

 

Treffpunkt für die Stadtführung ist die historische Rathaustreppe mit barocken Schnitzereien

 

Kühl und finster ist es dort, etwas muffig. Die eisernen Haken und Ketten an der Wand lassen Übles erahnen. Welches grausige Geheimnis der lehmige Boden der Folterkammer verbirgt, wird an dieser Stelle nicht verraten.

Doch das Rechtssystem im Mittelalter war anders, als es von Hollywood und Co. dargestellt wird, erklärte Meister Hans: Über allem stand die feste Überzeugung, im Fegefeuer zu landen, wenn man nach schweren Sünden ohne Vergebung stirbt. Das irdische Dasein war oft schon hart genug, doch die Aussicht, auch nach dem Tod für alle Ewigkeit unerträgliche Qualen erleiden zu müssen, flößte ganz reelle Angst ein. Die Hoffnung auf das Paradies, wo es genug zu Essen, keine Krankheiten und keine Schmerzen geben würde, erleichterte so manche Höllenqualen im Diesseits.

Wir erfuhren viel über die Denkweise der Duderstädter vor 600 Jahren, über die Rechtsprechung (Kinder galten zum Beispiel generell als unschuldig) und über den Beruf des Mannes, der das Urteil auszuführen hatte. Ein Scharfrichter war oft jemand, der selbst verurteilt worden war, und dem man die Wahl ließ: Tod oder Henker. Mit der Hoffnung auf Gottes Gnade wählten die meisten Verurteilten die eigene Hinrichtung, denn ein Henker verstößt gegen das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten. Und damit steht er schon per se mit einem Fuß in der Hölle.

Wer Reue zeigt, wird wieder zusammengeflickt

„Geh doch zum Henker!“ – Dieser heute eher abweisend gemeinte Spruch konnte um 1500 wohl ein gut gemeinter Rat sein. Hans Zinke mag allerdings die Bezeichnung Henker nicht, denn sie wird seinem Berufsstand nicht gerecht. Ein Scharfrichter foltert und henkt nicht nur, er kann auch gedehnte, gestreckte oder sonst irgendwie geschädigte Gliedmaßen wieder einrenken und zusammenflicken. Wer unter Folter seine Taten bereut hatte und dann begnadigt wurde, den musste der Scharfrichter körperlich wiederherstellen. Und dazu waren anatomische Kenntnisse nötig, die schließlich auch Unfallopfern wieder auf die Beine helfen konnten.

Auf der weiteren Tour durch die Duderstädter Innenstadt erschlossen sich uns so manche Zusammenhänge: Woher kommen die Straßennamen, was wurde am Gropenmarkt gehandelt? Etwas skeptisch blickten wir schließlich auf die Spitze des Westerturms. Die hat nämlich nie aufgehört, sich zu drehen: pro Jahr etwa um drei Millimeter, erfuhren wir von Meister Hans. Fliegt da nicht mal ein Ziegel herunter, wenn man gerade unten vor dem Torbogen steht? Die komplexe Dachkonstruktion werde regelmäßig kontrolliert, wurden wir beruhigt. Auf jeden Fall werden wohl noch einige Generationen von Dachdeckern ihre Freude haben, dieses außergewöhnliche Dach instand zu halten.

 

Sie dreht sich weiter: die markante Spitze des Duderstädter Westerturms

Spannend war die Tour nicht nur für die Gäste aus Hamburg und Kassel. Durch die Einblicke in das Lebensgefühl vergangener Epochen bekamen auch die Besonderheiten der Bauwerke und Straßennamen für die Einheimischen einen verständlichen Sinn.

Wenn Hans Zinke zurückkehrt ins 21. Jahrhundert, heißt er Claus Ludwikowski und ist ausgebildeter Stadtführer. Außer mit dem Scharfrichter gibt es auch Touren mit dem Nachtwächter Jakob Kannengießer (abends), der mit Laterne und Hellebarde die Gäste mit auf seinen Wachgang nimmt. Eine Erlebnisführung durch die Duderstädter Kirchen bietet Anna-Victoria Jung unter dem Titel „GlaubensBilder“ an, und um die Inschriften alter Häuser und ihr Bezug zur Reformation geht es beim Stadtrundgang mit Jürgen Sczuplinski. Die Duderstädter Wartenwanderung führt vom Stadtwall hinauf zur Sulbergwarte. Knickmeister Borchard Borchardis erklärt dabei das einstige Verteidigungssystem Duderstadts.

Alle Stadtführungen sind zu buchen in der Duderstädter Gästeinformation im historischen Rathaus, Marktstraße 66. Telefon 05527 – 841200, info@duderstadt.de.

 

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