Grenzöffnung vor 30 Jahren – kann ein Funke von der damaligen Atmosphäre nach drei Jahrzehnten wieder aufflackern? Oder haben die Menschen die Nase voll von Erinnerungen an ihre alten Hoffnungen, die vielleicht nicht in der gewünschten Form erfüllt wurden?
Der Andrang beim Grenzlandmuseum Eichsfeld war jedenfalls riesig, an diesem Festwochenende 9./ 10. November 2019. Das Programm versprach Besonderes: Die Nivre Film & Studion GmbH wollte mit einem multimedialen Licht- und Klangkunstprojekt Erinnerungen wecken, aber auch Anregungen bieten, um zu hinterfragen, wo wir heute eigentlich stehen mit unseren Wünschen nach Frieden und Freiheit. Das Projekt „Niemandsland – Zwischen zwei Welten“ sollte jedoch erst mit Beginn der Dämmerung richtig zu Geltung kommen.
Der NDR 1 sendete am Samstag seit dem Morgen Zeitzeugen-Interviews live zum Thema „Mein 9. November“. Wer war wo, als die Grenze fiel? Und der NDR-Kult-Klempner Schüssel Schorse erreichte mit seinem VW-Bulli das Grenzlandmuseum als letzte Station seiner Tour am Grünen Band und brachte geballte Party-Laune mit, als er von seinen Eindrücken erzählte und eine Showeinlage zu David Hasselhoffs Ohrwurm aus der Mauerfall-Zeit „Looking for Freedom“ präsentierte.
Bis zum späten Abend strömten Menschen ins Grenzlandmuseum, um die Ausstellungen zu besuchen, an Führungen teilzunehmen oder ihren Kindern und Enkeln zu zeigen, wo früher „die Welt zu Ende“ war.
Ein länderübergreifender ökumenischer Open-Air-Gottesdienst wurde auf Teistungenburg gefeiert, wo nicht nur dem glücklichen Ereignis der Grenzöffnung nach der friedlichen Revolution gedacht wurde, sondern auch den Opfern an der Grenze – und denen der Reichspogromnacht 1938. Der 9. November ist eben zwiespältig behaftet in der deutschen Geschichte.
Als es dunkel wurde, zeigte die Nivre Film & Studio die spektakuläre Licht- und Klangkunst am Grenzlandmuseum und entlang des Grenzlandwegs. Schwirrende, beinahe in der Luft stehende Klänge, kalt wie schneidender Wind durch Stahlmattenzäune, beschworen einen beklemmende Atmosphäre herauf. Im Kontrast dazu mischten sich Tonaufnahmen von Stimmen, die von Fluchterlebnissen berichteten, mit den gedämpften Unterhaltungen derer, die sich ebenfalls, teils mit Fackeln oder den Taschenlampen an ihren Handys, auf den Grenzlandweg machten.
Wegen des Dauerregens in der Nacht zuvor gab es am ersten Abend ein paar Probleme bei einzelnen Abschnitten der rund 1000 Leuchtkörper. Doch die Techniker, die mit Stirnlicht die Gräben am ehemaligen Todesstreifen entlangliefen, um die Schäden zu beheben, erinnerten ungewollt an diejenigen, die einst versucht hatten, dieses Bollwerk zu überwinden, das ein ganzes Volk im eigenen Land gefangen hielt.
Am Grenzlandmuseum wurden die Außenwände der Gebäude zu Leinwänden. Das Nivre-Team versuchte sich nicht etwa in einer Dokumentation der historischen Abläufe, sondern setzte mit künstlerischen Komponenten authentische Einzelschicksale dem Stimmungsbild einer Epoche gegenüber. Die Menschen blieben stehen, hörten zu, ließen die Bilder, Stimmen, Klänge wirken, zückten ihre Handys oder hielten sich an den Händen.
Auch im Museum drängten noch am späten Abend die Besucher durch die Ausstellungsräume. Das bedeutete Sonderschichten für die Mitarbeiter, die Ehrenamtlichen, die Feuerwehren aus dem umliegenden Gemeinden und die Standbetreiber vor der Bildungsstätte, die alle Gäste mit Getränken, Bratwurst, Crepes und Glühwein versorgten.
Aus den Lautsprechern erinnerten die Lieder der 80-er an die damalige Sehnsucht, an die Hoffnung und an den Mut: „ … flieg ich durch die Welt“ von City (Am Fenster), „ … einem ist sein Heim, ist sein Haus zu eng, er sehnt sich in die Welt“ von den Puhdys (Ikarus) und natürlich „Wind of Change“ von den Scorpions.
Doch das ganze aufwendige Konzept zum Festwochenende wäre nichts weiter gewesen als großes Entertainment, wenn es nicht diese Wirkung erzielt hätte: Überall auf dem Museumsgelände kamen die Menschen zusammen, bildeten kleinere und größere Gruppen, sprachen miteinander und erzählten Freunden, Nachbarn und Fremden, wo und wie sie den 9. November 1989 erlebt hatten. Vielen standen bei diesen Erinnerungen Tränen in den Augen – immer noch, auch nach 30 Jahren.
Dirk Gorges ist am späten Abend des 9. Novembers 1989 von Nordhausen aufgebrochen, um zu gucken, ob er wirklich über die Grenze käme. So richtig glauben konnte er ja nicht, was er da gerade im Radio gehört hatte, dennoch war ein Wandel in der DDR inzwischen nicht mehr zu verleugnen. Auf den Küchentisch hatte er für seine schon schlafende Frau einen Zettel gelegt: „Bin im Westen, komme frühst wieder“. Als er am Genzübergang Duderstadt-Worbis ankam, war noch alles ganz ruhig. Ein Grenzsoldat klopfte mit dem Gewehrlauf an die Scheibe des Ladas. „Ich hatte wahnsinnige Angst“, erzählte Dirk Gorges. Aber er wurde tatsächlich durchgelassen, kam in Duderstadt an und fand eine noch offene Gaststätte, das „Ambiente“. Von dort rief er seine Eltern an: „Ratet mal, wo ich bin!“ Seine Eltern glaubten ihm erst, als sie das Radio anstellten. Morgens um 7 Uhr stand Dirk Gorges wieder auf der Matte, als Schlosser bei der Nordhäuser Kornbrennerei.
Umringt von mehreren Passanten standen auch die beiden ehemaligen Busfahrer Erwin Menzel und Walter Odem am Grenzlandmuseum. Seit der Öffnung des kleinen Grenzverkehrs 1973 hatten sie für das Duderstädter Busunternehmen Rosenthal Reisende bis zur Grenze gebracht, die dann in der DDR mit den Ikarus-Bussen weiterfahren mussten, um Verwandte zu besuchen. Schon zwei Tage nach der Grenzöffnung durften die Rosenthal-Busse aus dem Westen bis nach Leinefelde fahren – und hatten nicht nur Fahrgäste an Bord. „Wir haben Baustoffe und ganze Paletten mit Fliesen nach Leinefelde gefahren“, erzählte Erwin Menzel.
Heribert Wetter, damals Kaplan in Leinefelde, berichtete im offenen Podium, wie zwei Jugendliche am 9. November 1989 in eine Versammlung stürmten, das Mikrofon an sich rissen und riefen, die Grenze sei offen. „Wir dachten erst, die seien betrunken, aber sie beteuerten, sie seien nüchtern und mit ihrer Mofa unterwegs gewesen. Die Versammlung hat sich innerhalb weniger Minuten aufgelöst, und wir sind alle los zur Grenze“, erzählte Heribert Wetter.
Hans-Georg „Schorse“ Busch aus Uslar kommt über ein Foto aus den 70-er Jahren mit anderen Leuten ins Gespräch: Mit dem damals im Eichsfeld engagierten Pater Aloisio, der Haushälterin und einem Teil seiner Angehörigen steht „Schorse“ als Kind vor dem ehemaligen Grenzübergang Duderstadt-Worbis, um im Kleinen Grenzverkehr die übrige Verwandtschaft in der DDR zu besuchen.
Eine ältere Frau zeigte ihrem Enkelkind von der Brücke über die B247 den ehemaligen Grenzstreifen, der am Museum noch gut sichtbar ist. „Dort war der Zaun, da durften wir nicht rüber.“ Das Kind blickte auf die B247, dann mit großen Augen in das Gesicht der Großmutter, wohl in der Erwartung auf die Pointe eines solchen Blödsinns. Wieso konnte man nicht einfach auf der Straße weiter fahren?
Wie wichtig es ist, Erinnerungen der nachfolgenden Generation zu erzählen, damit die Kraft der Ereignisse weiter wirken kann, wurde auch beim Festakt am Sonntag immer wieder betont. „Der 9. November 1989 ist ein Tag, der niemals endet“, sagte Horst Dornieden, Vorsitzender des Trägervereins Grenzlandmuseum Eichsfeld. Der zweite Vorsitzende Wolfgang Nolte nannte die multimediale Ausstellung „Niemandsland – Zwischen zwei Welten“ eine „Adaption der Ereignisse um den 9. November 1989 in der Sprache der nächsten Generationen.“
Emotionale Einblicke in DDR-Zeiten als lähmende Enge, mit dauerhafter Bespitzelung und Repressalien für alle, die sich nicht „ihr Tun, ihr Denken und sogar die Gefühle“ vorschreiben lassen wollten, gab das Schauspielerehepaar Claudia Wenzel und Rüdiger Joswig in der Lesung „Zeitenwende – Lebenswende“. Die Jugendlichen Jacob Hülfenhaus, Robert Schmidt und Lennart Scheerschmidt stellten ihren Animationsfilm „Alltag im Sperrgebiet“ vor, der das Leben an der innerdeutschen Grenze kurz und knapp für Schüler erklärt. Und in der Podiumsdiskussion zum Thema „Bedeutung historischer Zäsuren für Politik und Gesellschaft“ beteuerten die thüringische Staatssekretärin für Kultur und Europa Dr. Babette Winter und der niedersächsische Kultusminister Grant-Hendrik Tonne weitere institutionelle Förderungen für historische Orte, die politische und kulturelle Bildung in einem besonderen Rahmen vermitteln – wie eben das Grenzlandmuseum.
Wie zukunftsweisend die demokratiebildende Arbeit des Grenzlandmuseums tatsächlich ist, fasste übrigens Georg Baumert, Forstwissenschaftler und pädagogischer Mitarbeiter des Grenzlandmuseums, in seinem NDR1-Radio-Interview zusammen: Die Landschaft und das Grüne Band werden benutzt, um ökologisches, geschichtliches und politisches Wissen zu verbinden. – Beste Voraussetzungen also mitten im Eichsfeld für ökologische, politische und kulturelle Bildung.
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