Auf unsere Rezension zum zweiten Band der heimatkundlichen Reihe „Eichsfelder Lebensbilder“ in Clanys Eichsfeld-Blog und der Frage, wo eigentlich die Frauen seien, die mitgewirkt haben an der gesellschaftlichen Entwicklung im Eichsfeld, hat der Vorstand des Vereins für Eichsfeldische Heimatkunde reagiert. Denn, wo die Frauen seien, habe man sich dort ebenfalls gefragt. Zu diesem Thema veröffentlichen wir hier den lesenswerten Gastbeitrag des Heimatkundlers Mathias Degenhardt:
Frauen in der Eichsfelder Geschichte und Geschichtsforschung
Der Verein für Eichsfeldische Heimatkunde e.V. gab jüngst den zweiten Band seiner Schriftenreihe „Eichsfelder Lebensbilder“ heraus. Ein Kritikpunkt ist dabei das Zahlenverhältnis zwischen Männern und Frauen – 15 Lebensbeschreibungen von Männern steht nur eines einer Frau gegenüber.
Dieser Umstand ist mit Recht zu beklagen. Allerdings spiegelt er eine historische Tatsache wider: In der Vergangenheit bzw. Geschichte des ganzen Landes als auch der Region Eichsfeld herrschten über Jahrhunderte gesellschaftliche Reglements und Wertvorstellungen, die Frauen- und Männerbilder vermittelten, welche es Frauen vielfach und nach heutigem Empfinden in diskriminierender Weise unmöglich machten, aus der großen Masse hervor in das Licht der Geschichte zu rücken. Nur wenigen, wie die bereits in den „Lebensbildern“ vorgestellten Frauen Gisela von Wintzingerode und Ida von Kortzfleisch, ist diese heutige Betrachtung vergönnt.
Ihr Weg war zumeist als Ehefrau und Mutter, Hausfrau und Gesellschafterin vorherbestimmt. Im ländlichen und katholisch geprägten Eichsfeld kam als besonderer Lebensweg nur jener der Ordensfrau hinzu – viele gingen tatsächlich diesen Weg. Ansonsten war es Frauen (auch im Eichsfeld) bis weit in das 20. Jahrhundert schlichtweg so gut wie nicht möglich, Unternehmen zu gründen und zu führen, Patente anzumelden, Zeitungen zu verlegen, als Parlamentarier oder hoher Beamter die Politik mitzugestalten, als Parteifunktionär zu agieren, im Richteramt oder in der Armee Karriere zu machen oder eine Professur zu erlangen. Selbst der freiere Kunstbetrieb war von Männern dominiert.
Da Frauen es oftmals verwehrt blieb, besonderes zu schaffen, zu gestalten und eine Wirkung zu entfalten, fehlen sie in den meisten Gesellschaftsbereichen von der Frühneuzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein. Dieser Umstand ist absolut beklagenswert, aber zugleich auch eine Tatsache. Über Teile der Bevölkerung, die in den angeführten Bereichen fehlen oder stark unterrepräsentiert waren, kann demnach auch nichts oder kaum etwas geschrieben werden. Die fehlende Ausgewogenheit der Geschlechterverteilung in den „Lebensbildern“ spiegelt diese bedauerlichen aber faktischen Verhältnisse wider. Unserem Empfinden und Zeitgeist des 21. Jahrhunderts widerstrebt und befremdet das. In 100 Jahren wird man mit Selbstverständlichkeit auf die Großen unseres Jahrhunderts blicken und hoffentlich feststellen, dass das Verhältnis dann ausgewogener sein wird. Aber noch ist zu wenig Zeit vergangen.
Zugleich wird im Buch ein anderer Umstand deutlich: das Geschlechterverhältnis in den Reihen der Autor*innen bzw. Heimatkundler*innen im Eichsfeld. Einer Autorin stehen elf Autoren gegenüber. Hier wirkt noch der Umstand nach, dass sich in den Anfängen der Eichsfelder Heimatkunde – übrigens wie in allen Regionen im deutschsprachigen Raum – Pfarrer und Lehrer, also Männer, der Regionalgeschichte zugewandt hatten. Häufig traten dann männliche Ortsheimatpfleger in deren Fußstapfen. Und das wirkt bis heute mit der ebenfalls beklagenswerten Situation fort, dass nur relativ wenige heimatgeschichtliche Werke und Ortschroniken auf Frauen zurückgehen.
Im Untereichsfeld seien Bettina Bommer und Sigrid Dahmen genannt, die die Ortschroniken von Seulingen sowie Krebeck/Renshausen verfassten. Im thüringischen Eichsfeld ist es beispielsweise Anne Hey, Stadtarchivarin von Heiligenstadt, die regelmäßig publiziert. Ansonsten sind es vor allem Männer, die hier forschen und schreiben. Die heimatkundlichen Vereine des Eichsfeldes würden es sehr begrüßen, wenn sich mehr Frauen in der Heimat- und Naturkunde, in der Publikation, in den Arbeitskreisen und Vorständen engagieren würden. Ihr Zutun, ihre Perspektive und ihre Schaffenskraft sind für eine lebendige sowie an Gegenwart und Zukunft orientierte Heimatforschung unverzichtbar.
Es ist aber nicht nur die Unwucht der Geschlechterverteilung sondern auch jene der Altersgruppen. Junge Menschen aus den Reihen der Zwanziger und Dreißiger, teilweise sogar Vierziger fehlen. Auch hier gilt die Notwendigkeit, dass junge Menschen, egal ob gebürtiger Eichsfelder oder nicht, ob Akademiker oder nicht, sich für die Geschichte ihres Heimat- und Wohnortes, ihrer Region und ihres Vereins interessieren und diese erforschen. Die Forschung kann schon im Erkunden alter Familienfotoalben oder des großelterlichen Dachbodens und dem Erfassen der Familiengeschichte beginnen – durch diesen Funken kann dann die Geschichte des Dorfes und der Stadt, des Vereins oder des Berufsstandes, der Kirchengemeinde oder der Partei weiteres Interesse erfahren.
Mit dem Eichsfeld-Jahrbuch, dem Eichsfeld-Journal und den „Lebensbildern“ des Vereins für Eichsfeldische Heimatkunde e.V. aber auch im Eigenverlag sind zahlreiche und auf Zuarbeit wartende Plattformen gegeben, den Funken dann auch im dankbaren Umfeld zu entzünden und Unwuchten in Geschlechter- und Altersverteilungen künftig selbst nur noch Geschichte sein zu lassen.
Mathias Degenhardt
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