Seit 1700 Jahren leben jüdische Gemeinden im deutschsprachigen Raum in Europa. Aus diesem Anlass finden 2021 zahlreiche kulturelle und informative Veranstaltungen statt – wegen der Pandemie mit einigen digitalen Angeboten.
Auch in Duderstadt lebte bis zum Zweiten Weltkrieg eine kleine jüdische Gemeinde. Deren Geschichte ist zumindest in den Akten im Duderstädter Stadtarchiv dokumentiert.
2021 könnte in Duderstadt auch noch ein weiteres Jubiläum gefeiert werden: Im Juli 1871, also vor 150 Jahren, erhielt die jüdische Gemeinde das Recht, ihre Toten auf einem eigenen Friedhof zu bestatten. Das war vorher nur auf einer Viehweide möglich. Ein Gedenkstein am Gänseweg erinnert heute an das jüdische Leben in Duderstadt. Außerdem wurde eine Straße nach dem jüdischen Gemeindevorsteher Moritz Katz benannt, auf dessen Initiative um 1870 der jüdische Friedhof offiziell genehmigt wurde. Die letzten Duderstädter jüdischen Glaubens, Erich Löwenthal und die Familie Israel, wurden 1942 an die Gestapo ausgeliefert. Der Friedhof wurde von den Nazis geschändet, die Grabsteine zerstört.
Vor den ehemaligen Wohnhäusern der Deportierten hat der Kölner Künstler Gunter Demnig 2007 und 2008 „Stolpersteine“, Messingplatten mit den Namen der Opfer des Nationalsozialismus, ihrem Geburts- und Todesjahr, verlegt, um an das Schicksal dieser Menschen, aber auch an die Umstände ihres Todes, zu erinnern.
Antisemitismus ist und war aber nicht nur ein Phänomen im Nationalsozialismus. In der Schriftreihe der Geschichtswerkstatt Duderstadt ist 2012 das Werk „Geschichte der neuzeitlichen jüdischen Gemeinde in Duderstadt“ erschienen, wo sich der Autor Götz Hütt die Mühe machte, die städtischen Dokumente zum jüdischen Leben in Duderstadt durchzusehen, zusammenzufassen und Rückschlüsse zuzulassen.
Bereits ab dem 14. Jahrhundert hat es eine jüdische Gemeinde in Duderstadt gegeben, woran heute noch der Name „Jüdenstraße“ erinnert. 1338 wurde auch eine Synagoge urkundlich erwähnt. Warum sich diese Gemeinde mit bis zu 12 Familien mitsamt Hauspersonal aufgelöst hatte, ist nicht bekannt. Erst 1812, also rund 500 Jahre später und nach der zugestandenen Religionsfreiheit im Territorium des Königreichs Westphalen, ließen sich wieder fünf jüdische Familien in Duderstadt nieder. In den Akten werden sie schon 1813 als jüdische Gemeinde bezeichnet.
Der Zuzug von neuen Händlern, die ihr bescheidenes Einkommen mit dem Verkauf von Gebrauchtkleidung, Schnittwaren, Kurzwaren, Trödel und Vieh erwarben, passte einigen Duderstädter Kaufleuten nicht, und sie wandten sich 1816 an den Commissarius der hannoverschen Regierung mit der Bitte, das alte Privileg zurückzuerhalten, den Juden das Siedeln und Hausieren in Duderstadt zu verbieten. Allerdings wurde die Klage von der Regierung abgewiesen.
Dennoch konnten sich die jüdischen Familien auf diesem Urteil nicht ausruhen. Bei jedem Wechsel der Herrschaftsmacht war fraglich, ob die neue Obrigkeit die ohnehin sehr eingeschränkten Rechte der Juden noch anerkennen würde.
Die hannoversche Provinzialregierung stellte ab 1818 Schutzbriefe gegen ein entsprechendes Schutzgeld aus, die den männlichen jüdischen Familienoberhäuptern das Wohnrecht und Gewerberecht in Duderstadt erlaubte. Jeweils nach einem Jahr mussten diese Schutzbriefe erneut beantragt und bezahlt werden. Solche Repressalien richteten sich allein gegen Menschen jüdischen Glaubens. Die Rechte der christlichen Bürger wurden ihnen nicht zugestanden.
Von Seiten der christlichen Duderstädter Bevölkerung mussten die jüdischen Familien Spott und Verachtung ertragen. Dies geht aus einem Beschwerdebrief der sechs jüdischen Familienoberhäupter im Jahr 1829 hervor, in dem sie den Magistrat um Hilfe baten. Bereits seit 1816 verbreitete sich nämlich in Deutschland auf dem zaghaft beginnenden Weg zur rechtlichen Gleichstellung der Juden auch die Missgunst unter dem christlichen Teil der Bevölkerung. 1819 gingen die Krawalle gegen Juden als Hep-Hep-Unruhen in die Geschichte ein, die in Würzburg anfingen und sich über viele Städte in Europa ausbreiteten. Der daraus entstandene Spottruf „Hep-Hep, Jud´verreck!“ wird auch in dem Beschwerdebrief der Duderstädter Juden mehrfach angedeutet. Daraufhin wurde lediglich dem Duderstädter Musikus verboten, Spottlied und Knittelvers weiterhin öffentlich vorzutragen.
Erst 1842 wurde ein Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden erlassen, mit dem Ziel, über Synagogengemeinden die Schulbildung jüdischer Kinder sicherzustellen und eine Armenkasse zu unterhalten. Damit sollten z.B. alleinstehende Witwen und Kranke versorgt werden.
Sicherlich gab es auch christliche Duderstädter, die mit ihren jüdischen Nachbarn friedlich zusammenlebten, bei ihnen einkauften und ihnen damit auch ein wirtschaftliches Überleben in der Stadt sicherten. Dennoch war die Gleichstellung noch weit entfernt.
Erst nach einer erneuten Gesetzesänderung durften Juden ab 1848 den Bürgerstatus in ihrem Wohnort erhalten. Nachdem 1866 das Königreich Hannover an Preußen gefallen war, wurde schließlich die Gewerbeordnung liberalisiert. Jüdische Händler konnten Häuser erwerben und eröffneten Geschäfte wie das Textilhaus Rosenbaum. Die Anzahl der in Duderstadt lebenden Juden vergrößerte sich von 16 (1867) auf 60 (1875) und erreichte den Höchststand um 1900 mit 85 jüdischen Bürgern.
Aus einem Brief an den Magistrat im Jahr 1870 vom jüdischen Gemeindevorsteher Moritz Katz geht hervor, dass den Juden zur Beerdigung ihrer Verstorbenen bis dahin lediglich eine städtische Viehweide zugewiesen worden war. Moritz Katz bat darum, den christlichen Einwohnern nicht nur in der Erfüllung der Pflichten (insbesondere Abgaben), sondern auch in dem Zugeständnis von Rechten gleichgestellt zu werden. Er forderte, das Beweiden des Begräbnisplatzes zu untersagen und eine Einfriedung zur Wahrung der Totenruhe zu gestatten. Ein Jahr später, im Juli 1871, wurde nach einer Ortsbegehung die bisherige städtische Viehweide der jüdischen Gemeinde als Friedhof zugewiesen. Die Kosten für die Einfriedung und den Unterhalt des Friedhofs trug die jüdische Gemeinde, die Stadt beteiligte sich nur mit einem Zuschuss von 25 Talern.
Für ihre Gottesdienste hatten die Juden jahrzehntelang Privaträume angemietet und als Synagoge genutzt. Erst 1896 war es gelungen, einen Bauplatz für ein eigenes Gotteshaus in der heutigen Christian-Blank-Straße zu erwerben. Auch hier gab es massiven Widerstand von Seiten der christlichen Bevölkerung. Der Bauplatz sei zu nahe an einer christlichen Kirche, zu nahe an der Klosterschule, zu dicht an der Innenstadt. Eine rechtliche Gleichstellung der Juden war in den Köpfen der christlichen Duderstädter anscheinend ebenso wenig angekommen wie die Akzeptanz einer Minderheit in der gesellschaftlichen Gemeinschaft.
Die Bezirksregierung überließ die Entscheidung über den Synagogenbau dem Duderstädter Magistrat mit der Auflage, innerhalb von 14 Tagen einen anderen gleichwertigen Bauplatz zu finden. Das ist den Duderstädtern nicht gelungen. Also konnten im August 1897 die Bauarbeiten an der Christian-Blank-Straße beginnen. Ein Jahr später, am 24. August 1898, wurde die Duderstädter Synagoge eingeweiht. Sie bot Platz für bis zu 100 Gläubige. Außerdem gab es einen Unterrichtsraum und im Obergeschoss eine Lehrerwohnung.
Im jungen 20. Jahrhundert wurde der nationalistische Ton zunehmend rauer. Von Gleichstellung der Juden war dann spätestens ab 1933 keine Rede mehr. Die NSDAP war nun an der Macht und bereitete Hitler den Weg zur Diktatur. Die Nazis riefen am 1. April 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Die Jüdenstraße in Duderstadt wurde in Adolf-Hitler-Straße umbenannt. Es folgte die öffentliche Hetze gegen jüdische Bürger.
Die jüdische Gemeinde schrumpfte. Dennoch klagte Landrat Heinemann in einem Schreiben an die Gestapo Hildesheim: „Leider bringt die Landbevölkerung, jedenfalls Einwohner einzelner Dörfer, der Judenfrage immer noch nicht das nötige Verständnis entgegen und tätigt trotz aller Aufklärung ihre Einkäufe bei den beiden jüdischen Geschäften in Duderstadt, obwohl für die in Frage kommende Branche in Duderstadt genügend christliche Geschäfte vorhanden sind.“ Vorerst ließen sich also einige christliche Eichsfelder noch nicht davon abhalten, in den Geschäften der Juden einzukaufen. Doch der öffentliche Druck wurde erhöht.
1936 schickte die Firma Rosenbaum Waren an ihren Lieferanten zurück mit der Begründung, das Geschäft werde „durch Schildertragen vor unserer Ladentür und Fotografieren unserer Kunden boykottiert, sodass kaum ein Kunde unseren Laden betritt.“ Nach den Boykotten und Repressalien folgte schließlich die Welle der Gewalt.
In der Pogromnacht 9./10. November 1938 brannten in Deutschland, und auch in Duderstadt, die Synagogen. Augenzeugen in der Christian-Blank-Straße berichteten später, dass sie als Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr daran gehindert wurden, den Brand zu löschen. Wer sich über die unterlassene Hilfe beschwerte, dem wurde mit Verhaftung gedroht. Berichtet wurde aber auch, dass die Ursulinen halfen, einen Teil der Wohnungseinrichtung der jüdischen Lehrerfamilie zu retten.
Am Vormittag des 10. Novembers wurden die jüdischen Geschäfte in der Marktstraße zerstört und geplündert, bis zum 11. November wurden die jüdischen Männer verhaftet.
1939 wurden alle noch in Duderstadt verbliebenen Juden im „Judenhaus“ in der Obertorstraße 59 zusammengepfercht. Jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen, die Erwachsenen wurden von jeglichem öffentlichen Leben ferngehalten, ihre Konten wurden gesperrt und sie mussten eine lange Reihe von Repressalien erdulden. Am 26. März 1942 wurden schließlich auch die letzten sechs jüdischen Duderstädter deportiert.
Heute dient ein Gedenkstein am Duderstädter Stadtwall etwa in Höhe der einstigen Synagoge „den Lebenden zur Mahnung“ – so die Inschrift. Am Obertorteich erinnert die Skulptur „Die Geknechtete“ an die 750 ungarischen Jüdinnen, die ab November 1944 bis April 1945 im Außenlager des KZs Buchenwald in Duderstadt am Euzenberg in der Munitionsfabrik Polte Zwangsarbeit leisten mussten. Jedes Jahr am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung aus dem KZ Auschwitz, findet eine Gedenkfeier am ehemaligen jüdischen Friedhof am Gänseweg statt. Auch hier erinnern Gedenksteine u.a. an die Opfer des Holocaust. Von den 35 Juden, die 1933 noch in Duderstadt wohnten, haben nur fünf den Völkermord der Nazis überlebt.
Bei allen sichtbaren, nachweisbaren und gründlich aufgearbeiteten Spuren der Geschichte fragt man sich heute, wie es passieren konnte, dass Antisemitismus wieder auflebt. Ein Dulden, Wegsehen oder gar Mitmachen dürfte sich wohl niemand mehr erlauben.
1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum hat auch unsere mitteleuropäische Kultur geprägt. Juden und Christen waren und sind Nachbarn, Freunde, Ehepartner, Kollegen, Kameraden, Vereinsmitglieder, Künstler-Teams, und sie sind durch eine gemeinsame europäische Kulturgeschichte miteinander verbunden. Selbst Jesus Christus, auf den sich alle christlichen Glaubensgemeinschaften berufen, war Jude. Unterschiede und Vielfalt können jede Gesellschaft bereichern, den Blick weiten und wunderbare neue Erfahrungen bringen.
Es lohnt sich also, das jüdische Leben und die jüdische Kultur mit all ihren Facetten etwas genauer zu betrachten. Auf der Homepage des Vereins „2021 – Jüdisches Leben in Deutschland“ werden zahlreiche Veranstaltungen präsentiert, die Brücken schlagen zwischen 1700 Jahren gemeinsamer Geschichte im deutschsprachigen Raum und dem modernen jüdischen Leben in Deutschland.
Weiterführende Infos:
Juden in Europa
Bundeszentrale für Politische Bildung: Antisemitismus und Rechtsextremismus
Geschichtswerkstatt Duderstadt: Synagogengemeinde
Literatur:
Geschichte der neuzeitlichen jüdischen Gemeinde in Duderstadt, Autor: Götz Hütt – Schriftreihe der Geschichtswerkstatt Duderstadt 2012