Vor 30 Jahren riefen tausende Menschen in der DDR „Wir sind das Volk“. Sie solidarisierten sich, forderten gemeinsam die Abschaffung der SED-Diktatur und das Ende der Dauerbespitzelung, sie forderten freie Wahlen und Reisefreiheit. Man hatte es satt, Gefangener im eigenen Land zu sein. Und die Mangelwirtschaft hatte man auch satt.
Einfach auszureisen war nicht möglich. Also versuchten viele DDR-Bürger, auf eigene Faust zu flüchten, und waren bei der Umsetzung solcher Pläne äußerst kreativ. Es gab geglückte und gescheiterte Fluchtversuche in Hohlräumen von Fahrzeugen, mit selbstgebauten Booten über die Ostsee, durch Tunnel nach Westberlin, sogar im selbstgebastelten Heißluftballon über den militärisch abgesicherten Grenzzaun. Dabei riskierten die Fluchtwilligen, erschossen zu werden oder auf eine Mine zu treten oder mindestens im Gefängnis zu landen. Sie riskierten den Verlust der Familie, den Verlust des Sorgerechts für die eigenen Kinder, den Verlust ihrer Arbeit und aller Lebensgrundlagen. Dennoch wurden es mehr und mehr Mutige, die eine Flucht wagten. Allein 1989 verließen bis zum Mauerfall am 9. November rund 200.000 Menschen die DDR, davon etwa 25.000 über Ungarn und 15.000 über die deutsche Botschaft in Prag. Die Massenflucht war nicht mehr einzudämmen, sodass die Politiker sich dem Freiheitsdrang des Volkes beugen mussten.
Die friedliche Revolution der DDR-Bürger ist einzigartig in der Weltgeschichte, und sie hat viel bewegt. Ich war tief beeindruckt von dem, was eine große Gemeinschaft schaffen kann. Zwar war die Zeit damals auch chaotisch, aber man half sich gegenseitig, entwickelte Empathie, knüpfte neue Freundschaften und stand gemeinsam für ein Zusammenwachsen der westlichen und der östlichen Welt. Ich dachte wirklich, nun kämen friedliche Zeiten in Europa.
Duderstadt in „Hallo Niedersachsen“ vom 13. November 1989
Wenn ich heute die Rufe „Wir sind das Volk“ höre, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. In Zusammenhang mit rechtspopulistischen und menschenverachtenden Parolen geht es nicht mehr um Abschaffung von Grenzen, nicht mehr um Freiheit und Zusammenwachsen, und nicht mehr um Frieden. „Wir sind das Volk“ wird heute dort gerufen, wo Menschen bereit sind, anderen Gewalt anzudrohen, andere auszugrenzen und sich selbst abzuschotten. Das ist ganz sicher nicht die Volksgemeinschaft, zu der ich mich zugehörig fühlen möchte. Und das zumindest scheinen die rechtspopulistischen Schreihälse (egal, welcher Nation die angehören) ganz genau so zu sehen: Leute wie ich gehören nicht dazu.
Wer also soll „das Volk“ denn sein? Heute rufen nicht mehr die Mutigen die Parolen, sondern die Schisser – diejenigen, die sich überfordert fühlen mit der gemeinsamen Suche nach einer humanen und lebenswerten Lösung für alle. Was halten eigentlich die BürgerrechtlerInnen von 1989 davon, dass der einstige Ruf nach Freiheit nun genau das Gegenteil fordert: Grenzen. Mauern. Zäune. Ausschließen. Abschließen.
Schlimm ist außerdem, dass diese reaktionären Entwicklungen nicht nur eine Nation betreffen, sondern scheinbar weltweit (wieder) „salonfähig“ werden. Was kann dagegen getan werden? Mir fällt nur ein Weg ein: politische und kulturelle Bildung muss dringend mehr gefördert werden. Nur mit Wissen und Kreativität können Zusammenhänge erkannt und neue Ideen umgesetzt werden – für Frieden und für Freiheit. Nur so kann eine Kultur in all ihrer Vielfalt lebendig bleiben. Abschottung und Egoismus sind dagegen der sichere Weg ins Abseits.
Die Schule kann nicht alles auffangen. Einige außerschulische Einrichtungen zur politischen und kulturellen Bildung gibt es zum Glück auch im Eichsfeld, die ich hier im Laufe der Zeit näher vorstellen möchte.
Zum Gedenken an die friedliche Revolution und die Grenzöffnung vor 30 Jahren hat das Grenzlandmuseum Eichsfeld ein umfangreiches Programm zusammengestellt (mehr dazu folgt). Dabei werden auch immer die Auswirkungen auf die heutige Zeit ins Blickfeld gerückt und Entwicklungen hinterfragt.
Empfehlung:
Sonderausstellung „Aufbruch nach Europa“ in den Außenanlagen des Grenzlandmuseums
http://www.grenzlandmuseum.de/sonderausstellung/articles/sonderausstellung.html