“Das Durchgangslager Duderstadt: Wie umgehen mit einem Ort von NS-Kriegsverbrechen?” – unter diesem Titel hat die Geschichtswerkstatt Göttingen e.V. zu einem Info-Spaziergang auf dem Gelände der ehemaligen Ziegelei Bernhard in Duderstadt eingeladen. Das Interesse an diesem Thema war groß. Rund 40 Personen haben an der Veranstaltung teilgenommen.
„Wir sind überrascht und erfreut, dass so viele gekommen sind“, sagte der Volkskundler und Kulturwissenschaftler Günther Siedbürger, der die Teilnehmenden über Fakten und Hintergründe informierte und gemeinsam mit Frauke Klinge die Veranstaltung begleitete. Beide sind auch Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt.
Ein kühler Novemberwind zog bei dem Rundgang über das karge Gelände und durch die baufällige Ruine. Das Dach des großen Backsteingebäudes ist größtenteils eingedrückt, viele Fensterscheiben sind zerbrochen. Hier möchte man keinen Winter verbringen, schon gar nicht ohne Heizung – so wie die alliierten Kriegsgefangenen im Januar 1945.
Die Recherche über das Durchgangslager Duderstadt habe sich als schwierig erwiesen, erklärte Günther Siedbürger. Weder in der deutschen Presse, im Kreisarchiv oder im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg sei er fündig geworden. Allerdings gab es einige Dokumente über Befragungen der ehemaligen Kriegsgefangenen in amerikanischen, britischen, kanadischen und neuseeländischen Militärarchiven sowie alte Zeitungsartikel in der ausländischen Presse. „Im Duderstädter Stadtarchiv gibt es zwei Aktenstücke mit Hinweisen: Das Einnahmebuch der Stadt für Friedhofsgebühren und eine summarische Aufstellung Verstorbener vom Standesamt für den Suchdienst des Internationalen Roten Kreuzes. Im Ausland habe ich die National Archives des UK in London und der USA in Washington/College Park besucht. Die kanadischen und neuseeländischen Zeugnisse stammen von Websites, z.B. des neuseeländischen Ministry for Culture and Heritage“, nannte Günther Siedbürger die historischen Quellen. Außerdem bestätigten Teilnehmer des Rundgangs: in Duderstadt wurden die Elendszüge der Gefangenen, die im Winter 45 schließlich in der Ziegelei untergebracht wurden, von den Anwohnern wahrgenommen. Tausende Menschen auf dem Areal blieben nicht unsichtbar.
Die alliierten Kriegsgefangenen kamen aus östlich gelegenen Stammlagern, nachweislich auch aus dem heute in Polen liegenden Lamsdorf, aus Sagan und aus Görlitz. Als die Rote Armee im Osten immer näher rückte, wurden sie als vermeintliches Kriegspfand wochenlang ohne entsprechende Ausrüstung durch verschneites Land getrieben, mussten in Feldscheunen oder gar im Freien übernachten, und es gab nur alle zwei Tage eine magere Verpflegungsration. Manche fanden unterwegs etwas Gemüse in einem Feld. Aber was im Kriegswinter, wo viele Menschen hungerten, noch draußen lag, war sicherlich halb verdorben oder gefroren. Magen- und Darmerkrankungen breiteten sich unter den ohnehin geschwächten Gefangenen aus. Einige berichteten später von den Begegnungen mit anderen großen Gruppen, Flüchtlinge aus dem Osten oder KZ-Häftlinge, die ebenfalls umgelagert wurden.
Wer den Marsch überlebte – ca. 620 Kilometer in 24 Tagen – kam völlig erschöpft und ausgemergelt in Duderstadt an. Im Januar 1945 war die Ziegelei bereits stillgelegt. Das Gebäude wurde kurzerhand als Durchgangslager für Kriegsgefangene aus ca. 15 Nationen umfunktioniert. Im eisigen Winter wurden hier bis zur Befreiung durch die Amerikaner im Frühjahr 1945 bis zu 15.000 Menschen eingepfercht. Für die Organisation war die Wehrmacht verantwortlich.
Dunkelheit, Kälte, Feuchtigkeit, eine katastrophale Verpflegung und die Misshandlungen durch die Wachposten machten den ohnehin kranken und geschwächten Gefangenen sehr zu schaffen. Die Holzregale, in denen früher die Ziegel trockneten, dienten als Schlafpritschen. Es gab nur zwei Glühlampen im ganzen Gebäude. Es fehlten Heizmöglichkeiten, Brennmaterialien und sanitäre Einrichtungen. Nur eine Latrine und eine Handwasserpumpe standen außerhalb des Gebäudes zur Verfügung.
In der englischen Fachliteratur wird das Lager als eines der schlimmsten Durchgangslager der letzten Kriegsmonate eingestuft. Nach bisherigem Kenntnisstand sind hier mindestens 65 alliierte Kriegsgefangene ums Leben gekommen, aufgrund der Strapazen, Mangelernährung, Krankheit – und als Opfer von Kriegsverbrechen.
Nach dem historischen Rückblick durch Günther Siedbürger ging es auf dem Rundgang auch um die Frage, ob und wie man bei einer modernen Nutzung des Geländes an die Opfer aus dem Winter 1945 erinnern sollte. Nach aktuellen Plänen des Ottobock-Chefs Hans Georg Näder soll hier bei der Umsetzung des Projektes „Futuring Duderstadt“ auch Bausubstanz der ehemaligen Fabrik – soweit möglich – erhalten bleiben und in neue Nutzungsformen integriert werden. Außerdem soll hier ein neuer Stadtteil als Kombination von modernen Wohnformen, Wirtschaftsräumen und Biotopen in enger Nachbarschaft entstehen. Insgesamt wurde beim Rundgang der Wunsch geäußert, dass hier eine Gedenktafel o.ä. an die Opfer des einstigen Lagers erinnern solle, aber auch, dass die regionale Geschichte nicht vergessen und noch intensiver erforscht werde.
Der Rundgang war Teil der Reihe „Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus 9. November – 27. Januar“ und außerdem Teil des Projektes „Gedenken an NS-Opfer im Landkreis Göttingen und das Kriegsgefangenen-Durchgangslager Duderstadt” und der „Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Göttingen”. Förderer ist das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!”
(Die historischen Aufnahmen im Beitrag und die Karte: Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., Originale u.a. aus oben genannten Militärarchiven)
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