„Ich geh dort kaputt“ – Hörspielpremiere über den im Eichsfeld getöteten NVA-Soldaten André Rößler

Am 4. September 1976 starb der 19-jährige André Rößler bei seinem Fluchtversuch aus der DDR – nur wenige Meter entfernt vom Grenzübergang Duderstadt-Worbis, dem heutigen Grenzlandmuseum. “Ich geh dort kaputt” ist der Titel des Hörspiels über das Leben des jungen NVA-Soldaten, das der Autor Roman Grafe in der Bildungsstätte des Grenzlandmuseums vorstellte.

 

Hörspiel-Autor Roman Grafe

 

Es war die öffentliche Premiere des Hörspiels, dessen Einspielung auch das Grenzlandmuseum Eichsfeld gefördert hatte. Zu den Sprechern gehören die bekannten Schauspieler Angela Winkler (Berliner Ensemble), Martin Reinke (Burgtheater Wien), Jörg Ratjen (u. a. Schauspielhaus Hamburg), Philipp Schepmann (ARD), Max Schimmelpfennig (ZDF) sowie der Dichter und Sänger Max Prosa.

Das Interesse an der Geschichte André Rößlers war groß. Unter den Gästen in der Bildungsstätte waren einige Zeitzeugen, auch ehemaliges Krankenhauspersonal aus Worbis. Dorthin wurde der Leichnam des jungen Mannes gebracht, nachdem er bei seinem Fluchtversuch von Granatsplittern durchlöchert worden war.

Zuhörer aus dem niedersächsischen Gerblingerode erzählten, dass sie den „Knall“ 1976 gehört hatten und sich mit Grausen fragten, ob wohl ein Tier oder gar ein Mensch der Auslöser gewesen war. Andre Rößler war durch zwei Splitterminen tödlich getroffen worden. Der Unterleib des jungen Mannes sei vollkommen durchlöchert gewesen, bestätigten Liesel Schwarz und Bernd Preis, die am 4. September 1976 im Worbiser Krankenhaus zur Nachtschicht eingeteilt waren. Weit mehr als 100 Einschüsse wurden bei der Untersuchung des Leichnams gezählt.

Zufälligerweise war auch der damalige Krankenwagenfahrer an diesem Abend im Grenzlandmuseum unter den Zuhörern. Er erzählte, dass André Rößler schon tot gewesen sei, als man ihn im Krankenwagen abtransportieren wollte. Der Fahrer habe die Befehlshaber der NVA und der Stasi darauf aufmerksam gemacht, dass er keine Toten transportieren dürfe, doch dieser Einwand wurde ignoriert. Der Fahrer fuhr also den Leichnam ins nächste Krankenhaus – nach Worbis. Dies sei aber ein Irrtum gewesen, erzählte er, denn eigentlich hätte André Rößler nach Heiligenstadt gebracht werden sollen, wo man auf „solche Grenzfälle“ vorbereitet worden war und sich die Verantwortlichen sicherer sein konnten, dass nichts nach außen drang.
Die Stasi und die NVA versuchten mit allen Mitteln, den Tod des jungen Mannes zu vertuschen. Nur ein kleinster Kreis konnte zur Beerdigung kommen, und in der Öffentlichkeit wurde nichts über diese Geschichte bekannt – außer hinter vorgehaltener Hand. Auf der Thüringer Seite hätten die Menschen im Sperrgebiet ebenfalls ganz genau gewusst, was es bedeutete, wenn man diesen „Knall“ hörte, erzählte ein weiterer Zeitzeuge.

 

Ehemaliges Krankenhauspersonal als Zeitzeugen: Bernd Preis und Liesel Schwarz

 

Anfang der 2000-er Jahre ist der Journalist und Autor Roman Grafe bei der Recherche zu einer anderen Sache auf die spärlichen Unterlagen zum Tod André Rößlers aufmerksam geworden. In Zusammenarbeit mit dem Grenzlandmuseum, Zeitzeugen und Angehörigen des jungen NVA-Soldaten fügten sich viele Mosaiksteine zu einem Bild zusammen. Das Hörspiel beschreibt einen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der – wie viele junge Menschen in der DDR – heimlich die Musik aus dem Westen hörte und sich nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung sehnte. Dennoch war André Rößler eher der ruhige Einzelgänger, als der aufmüpfige Revolutionär. Als er zur Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen wurde, ahnte er schon, dass ihn der militärische Drill und das gefängnisgleiche Kasernenleben zerbrechen würden. „Ich geh dort kaputt“, sagte er seiner Mutter kurz vor der Abreise aus dem Erzgebirge ins thüringische Mühlhausen.

 

Lichtbilder zum Hörspiel: André Rößler als 17-Jähriger

 

Roman Grafe wählte eine dichte Sprache für das Hörspiel. Wenige Ausmalungen, dafür aber treffende Worte spiegeln unterschwellig auch die Enge, die der junge André Rößler in der DDR empfunden hatte. Fragmente aus seinem Leben wurden nach intensiver Recherche und Interviews mit der Mutter und Zeitzeugen in ein Lebensgefühl von 1976 eingepasst. Das Rauschen und Knarzen des Radios bei der Suche nach den West-Sendern, die Charts aus dieser Zeit von Peter Maffay über die Puhdys, oder ältere internationale Hits von den Beatles bis Jimi Hendrix, stehen im Wechsel zu den Dialogen und Erinnerungen. Roman Grafe verzichtet auf „Knalleffekte“ – was ebenfalls ein geschickter Kunstgriff ist, denn der Tod André Rößlers und der rund 1000 weiteren Opfer an der innerdeutschen Grenze sollte ungesehen und ungehört bleiben. Die Sorgfalt, die das DDR-Regime bei der Vertuschung zutage legte, beweist umso mehr, dass man sich sehr wohl des großen Unrechts bewusst war, das man dem eigenen Volk antat, indem man es mit allen Mitteln und mit aller Gewalt gefangen hielt.

 

Heute steht am Todesort André Rößlers ein Kreuz am Grenzlandweg

 

Beinahe wäre es den Verantwortlichen gelungen, André Rößler unsichtbar zu machen, aber die Geschichte entwickelte sich anders und war mit dem Tod des jungen Mannes keineswegs zu einem Ende gekommen. „Dieses Hörspiel hat André Rößler ein Gesicht gegeben, allein schon dadurch, dass wir hier heute zusammensitzen und über ihn sprechen“, sagte der ehemalige Krankenpfleger Bernd Preis.

„Gerecht wäre es, für all die ca. 1000 Todesopfer an der Grenze eine Geschichte zu erzählen“, meinte Roman Grafe, der selbst in Brandenburg aufwuchs und als 17-Jähriger im Jahr 1985 einen Ausreiseantrag stellte. Erst im Januar 1989 wurde dieser genehmigt. Nach einigen kürzeren Biografien von Opfern der SED-Diktatur möchte der Autor sich weiterhin der Sichtbarmachung des Unrechts in der DDR widmen. Mit dem Hörspiel „Ich geh dort kaputt“ leitet er u.a. Workshops zur historischen Aufarbeitung und politischen Bildung an Schulen.

Das Hörspiel ist außerdem am Besucherservice des Grenzlandsmuseums zu erwerben.

 

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