Die Geschichte eines fast vergessenen Grabes in Langenhagen wird gelüftet – und mahnt zum Frieden und zur Völkerverständigung

Seit über 100 Jahren liegt auf dem Friedhof im Duderstädter Ortsteil Langenhagen ein Belgier namens Frans Annaert begraben. Der Grabstein war in Laufe der Zeit verwittert, aber der Name noch gut zu erkennen. Manchmal standen dort frische Blumen. Das Grab wurde immer noch gepflegt. Aber von wem? Und wer war eigentlich dieser junge Mann, der mit 28 Jahren so fern seiner Heimat gestorben war? Eine fast vergessene Geschichte wurde gelüftet – und dazu im Oktober 2025 sogar eine Gedenktafel neben dem Grab aufgestellt.

Ein Dachbodenfund in Belgien brachte die Spurensuche ins Rollen. Wim Annaert fand eine Kiste mit alten Fotografien, Postkarten und wenigen Dokumenten über Frans Annaert – seinen Großonkel. Die spärlichen Anhaltspunkte in der Kiste machten die Familie neugierig. Gab es noch Spuren zu ihrem Verwandten? Eine vergilbte Postkarte aus dem Jahr 1917 von Frans an seine jüngste Schwester Germaine Maria trug einen Stempel vom Gefangenenlager Göttingen. Immerhin ein Hinweis.

 

Eine Postkarte gab den Hinweis auf das Kriegsgefangenenlager Göttingen (Foto: Familie Annaert)

 

Alte Dokumente: Der Dienstausweis von Frans Annaert als Schaffner der Straßenbahn in Gent (Foto: Familie Annaert)

 

Frans Annaert und ein Kollege vor der Straßenbahn in Gent (Foto: Familie Annaert)

 

Da die Kriegsgefangenen registriert wurden, fand Wim Annaert heraus, dass Frans im August 1917 auf einen Hof in Langenhagen bei Duderstadt gebracht wurde, um dort zu arbeiten. Mit Hilfe eines belgischen Übersetzers nahm Wim Annaert Kontakt zur Stadt Duderstadt auf. Ob es vielleicht eine Akte oder irgendeinen Hinweis gab? Im Stadtarchiv, wo auch alle Zeitungen aus Duderstadt archiviert werden, wurde man fündig:
Am 25. Mai 1918 berichtete die Südhannoversche Volkszeitung von einem Badeunglück am 22. Mai, einem Mittwoch. Ein kriegsgefangener Belgier sei in der Talsperre ertrunken, und zwar „infolge eines Herzschlages“. Dort heißt es weiter: „Nachdem derselbe bereits zweimal die Sperre durchgeschwommen hatte, ereilte ihn das Unglück beim dritten Versuche.“ Die Maitage im letzten Kriegsjahr waren sehr heiß, und in der Zeitung wird die Bevölkerung nachfolgend zur Vorsicht beim Baden ermahnt.

 

Ausschnitt aus der Südhannoverschen Volkszeitung von 1918 (Stadtarchiv Duderstadt)

 

Des Weiteren wurden im Stadtarchiv Göttingen Fotos von der Beerdigung des Verunglückten in Langenhagen gefunden. Die überraschten allerdings: Mit Kreuz und Blumenschmuck nahm offensichtlich das ganze Dorf – Männer, Frauen, Kinder in ihren Festtagskleidern – und auch weitere kriegsgefangene Flamen, die im Göttinger Lager untergebracht waren, am Trauerzug teil. Frans Annaert schien äußerst beliebt gewesen zu sein, und die Langenhagener zollten ihm, dem „Kriegsfeind“, höchsten Respekt mit einer Beerdigung, wie sie für ihresgleichen nicht hätte stattlicher sein können.

 

Kriegsgefangene tragen den Sarg von Frans Annaert, begleitet von der Dorfgemeinschaft (Foto: Stadtarchiv Göttingen)

 

Wim Annaert forschte weiter und fand Hilfe beim Duderstädter Bauhof, der für die Pflege der Kriegsgräber auf den städtischen Friedhöfen zuständig ist. Da Bauhofleiter Frank Widera öfters Anfragen von Nachkommen oder dem Volksbund Deutsche Kriegsgräber Fürsorge e.V. erhält, sammelt er alle Informationen, die im Zusammenhang mit alten Gräbern stehen. „Für Kriegsgräber gilt laut Völkerrechtsvereinbarung ewiges Ruherecht. Die werden also nicht eingeebnet“, erklärt er.

 

Kriegsgefangene Kameraden und die Einwohner von Langenhagen mit Kränzen und Blumenschmuck beim Begräbnis von Frans Annaert (Foto: Stadtarchiv Göttingen)

 

Frank Widera war das Grab in Langenhagen bekannt, und er kannte auch den alten Zeitungsausschnitt aus der Südhannoverschen. Als Wim Annaert ein aktuelles Foto vom Grab seines Großonkels zugeschickt bekam, wandte er sich über eine Duderstädter Facebook-Gruppe an die Menschen im Eichsfeld: „ Liebe Einwohnerinnen und Einwohner von Duderstadt-Langenhagen, … wir suchen Menschen aus Ihrer Gemeinde, die uns vielleicht mehr über Onkel Frans erzählen können. Wir wissen, dass er auf dem Bauernhof von Frau Friedrich gearbeitet hat. (Anmerkung: hier gab es eine Namensverwechslung, Friederich war der Vorname von Landwirt Ballhausen, seine Frau hieß Therese.) Jedes Jahr werden frische Blumen auf dem Grab niedergelegt. Wer sind diese Menschen? Können Sie uns bei der Beantwortung unserer Fragen helfen?…“ Mehrere Menschen reagierten auf diesen Aufruf. Offensichtlich haben bis heute die Nachkommen der Landwirte Ballhausen das Grab in Ehren gehalten.

Freundschaften außerhalb der Schlachtfelder

Diese Geschichte berührt bis in die heutige Zeit, denn sie zeigt auf besondere Weise, dass die Kriege der Herrschenden um Macht und Ressourcen nichts mit Feindschaften unter den Menschen zu tun haben. Kriegsgegner behandelten sich in Langenhagen – also weit außerhalb der Schlachtfelder – mit Anstand und Respekt, lernten sich kennen und wertschätzen. Frans Annaert hatte zuvor mit Landwirtschaft nichts zu tun, er war Schaffner und Kontrolleur in der Straßenbahn in Gent. Aber er fand sich auf einem Bauernhof „im Feindesland“ gut in die ungewohnte Arbeit ein, galt als fleißiger und freundlicher Zeitgenosse, war katholisch wie die Eichsfelder und wurde auch von der Landwirtsfamilie Ballhausen freundlich und mit Respekt behandelt – bis über seinen Tod hinaus.

 

Gedenktafel neben dem Grab von Frans Annaert in Langenhagen

 

Um mit diesem Beispiel für Mitmenschlichkeit und Anteilnahme unter Kriegsgegnern zum Frieden zu mahnen, haben der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, die Stadt Duderstadt und die Familie Annaert eine Gedenktafel erstellt, die unter großer Beteiligung der Langenhagener Bevölkerung feierlich neben dem Grab Frans Annaerts eingeweiht wurde.

 

Viele Menschen nehmen an der Einweihung der Gedenktafel auf dem Friedhof in Langenhagen teil

 

Landrat Marcel Riethig, Kreisvorsitzender des Volksbunds, erinnerte bei der Gedenkfeier daran, dass hinter jedem Toten eine persönliche Geschichte stecke, die uns in Erinnerung rufen solle, für Frieden und Freiheit einzutreten. An Wim Annaert überreichte er das Original der Sterbeurkunde des Großonkels Frans Annaert.

 

Landrat Marcel Riethig (r.) überreicht die Sterbeurkunde von Frans Annaert an dessen Großneffen Wim Annaert

 

Andreas Diedrich, Ortsbürgermeister von Langenhagen und Vertretung für den Duderstädter Bürgermeister Thorsten Feike, lobte auch das Engagement von Bauhofleiter Frank Widera, der im engen Kontakt zum Volksbund stand und die Idee der neuen Gedenktafel maßgeblich mit unterstützte.

Dr. Rainer Bendick, Bildungsreferent des Volksbundes, der gemeinsam mit dem Geschäftsführer der Bezirksgeschäftsstelle Braunschweig Michael Gandt zur Einweihung gekommen war und auch die Einladungen ausgesprochen hatte, lobte die Mitmenschlichkeit in Langenhagen. „Wir Nachgeborenen fragen uns heute, warum mussten Männer wie Frans Annaert überhaupt Soldat werden und gegen andere Männer kämpfen, die sie nicht kannten und die ihnen persönlich nichts getan hatten“, sagte er in seiner Ansprache.

 

Frans Annaert mit der Nummer eines deutschen Krieggefangenen auf der Uniform (Foto: Familie Annaert)

 

Pfarrer Martin Brzenska segnete die Gedenktafel und auch den neuen Grabstein, den Familie Annaert aufstellen ließ. In seinem Gebet bat er um Hilfe für die Regierenden, sich für das Wohl aller Menschen einzusetzen, damit die Völker der Welt in Frieden und Freiheit leben könnten.

Schließlich gab Wim Annaert einen Einblick in den Lebenslauf seines Großonkels, und da die Familie sehr musikalisch sei, spielte er dem Verstorbenen zu Ehren ein letztes Lied auf dem Akkordeon.

 

Wim Annaert spielt auf dem Akkordeon zu Ehren seines Großonkels Frans Annaert, dahinter Landrat Marcel Riethig und Ortsbürgermeister Andreas Diedrich

 

Über Frans Annaert:

Als Deutschland im August 1914 in Belgien einfiel, wurde Frans, Jahrgang 1890, einberufen, um sein Land zu verteidigen. In Antwerpen verloren die belgischen Soldaten die Schlacht. Frans konnte mit seinen Kameraden fliehen, wurde aber im Oktober 1914 in Duffel gefangen genommen. Seine Tochter Suzanna, die im April 1915 geboren wurde, hat er nie kennengelernt. Er durchlief mehrere deutsche Gefangenenlager, kam schließlich im Februar 1917 nach Göttingen und von dort als Arbeiter auf den Hof von Therese und Friederich Ballhausen in Langenhagen. Im Mai 2018 erlitt er beim Schwimmen in der Talsperre einen Herzinfarkt und starb daran.

 

Ein neuer Grabstein auf dem alten Grab von 1918

 

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