Gegossen, gesegnet, geschmolzen: Auf den Spuren der Otto-Glocken in Duderstadt

Monströse Metallkelche mit einem aufs Feinste abgestimmten Klang, der über weite Entfernungen zu hören ist – so ließen sich Kirchenglocken beschreiben. Eine Glockenweihe wurde seit jeher als großes Fest mit der ganzen Gemeinde gefeiert, wie vor der Duderstädter Kirche St. Cyriakus am 29. Oktober 1931. Doch das geweihte Klangwerk wurde elf Jahre später zur tödlichen Munition.

Der Ortsheimatpfleger Herbert Pfeiffer erklärt dazu: „Die zum 6er Geläut von St. Cyriakus in Duderstadt noch fehlenden zwei Glocken wurden 1931 von der Glockengießerei Otto aus Hemelingen bei Bremen gegossen. Es handelte sich um die heilige Dreifaltigkeitsglocke mit 5500 kg, Ton as 0 und die Regina Martyrum mit 2570 kg, Ton c. Die schon vorhandenen vier kleineren Glocken des 6er Geläuts wurden 1923 auch von Otto aus Hemelingen gegossen. Alle sechs Glocken wurden zwischen dem 2. und 5. August 1942 ausgebaut und der Metallspende des deutschen Volkes zugeführt und zu Kriegszwecken, man brauchte Bronze, eingeschmolzen.“

 

Duderstadt 1931: Zwei Glocken aus der Gießerei Otto in Hemelingen werden in St. Cyriakus geweiht, links die Dreifaltigkeitsglocke, rechts Regina Martyrum (Pfarrarchiv, Glockenbauverein Duderstadt)

 

Die Herstellung solcher Klangkörper ist eine Wissenschaft für sich. Die aus Duderstadt stammenden Brüder Carl und Franz Otto gründeten Ende des 19. Jahrhunderts eine Glockengießerei und legten damit den Grundstein einer Handwerks-Dynastie, die fast 100 Jahre bestehen sollte. Ihre Firmen- und Familiengeschichte war Basis für die Doktorarbeit des Religionswissenschaftlers Gerhard Reinhold aus Essen. Die Forschungsergebnisse wurden nach acht Jahren Vorbereitungszeit im Februar 2020 als großformatige (29,7 x 31,5 cm), aufwendig recherchierte und 600 Seiten starke Bilddokumentation veröffentlicht: „Otto-Glocken – Die Familien- und Firmengeschichte der Glockengießerdynastie Otto“. Allein die kunstvolle Buchgestaltung durch den Designer Michael Körner hat schon drei Jahre in Anspruch genommen. Doch wie kam es zum Kontakt des Wissenschaftlers mit den Glockengießern?

 

600 Seiten, kunstvoll und informativ: Otto-Glocken, veröffentlicht 2020 von Gerhard Reinhold

 

Dazu erklärt Gerhard Reinhold: „Ich habe von 1991 und 2010 als Geschäftsführer des Katholischen Gemeindeverbandes Bottrop gearbeitet. Über eine Neuorganisation für die 16 katholischen Kirchen Bottrops lernten Dieter Otto und ich uns kennen. Nach meinem Ausscheiden aus dem Gemeindeverband wurde ich gefragt, ob ich nicht für die Firma Otto im Bistum Essen Akquise machen könnte, da ich doch bistumsweit viele Kontakte hätte.“
Als Außendienstmitarbeiter von Otto habe er vornehmlich im Bereich des Bistums Essen gearbeitet und dort ca. 120 Kirchen und ihre Geläute besucht, zum Teil zusammen mit Dieter Otto, berichtet Gerhard Reinhold. Doch auch andere Orte mit Otto-Glocken wurden aufgesucht: der Dom zu Trier mit dem zehnstimmigen Geläut, der Kölner Dom, wo es zwei Otto-Glocken gibt, und weitere Kirchen in Bremen, Krefeld, Erkrath-Hochdahl, Berlin, Rostock, Düsseldorf, Recklinghausen, Fulda, Würselen, auf Borkum, sowie in Saarlouis das Glockenspiel im Rathaus.

Die Geschichte der Glocken ist alt

Der Klang von Glocken begleitet die Menschen in unserem Kulturkreis seit mehr als 1200 Jahren. Und er versetzt sie in Ehrfurcht. Glocken rufen zum Gebet und zum Gottesdienst, und sie verkünden Botschaften. Sie warnen vor nahendem Unheil oder läuten zu Königsgeburten, Taufen, zu Hochzeiten und zum Tod.

 

Friedrich Schiller veröffentlichte sein „Lied von der Glocke“ mit mehr als 400 Verszeilen im Jahr 1799

 

… Dem Schicksal leihe sie die Zunge;                                                  
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel. ...“,

… schreibt Friedrich Schiller (1759 – 1805) in seinem „Lied von der Glocke“ und verleiht ihr damit einen Status zwischen Göttlichem und Irdischem. Die Herstellung von Glocken erfordert umfassendes Wissen, physikalisches Verständnis und ein feines Gehör des Meisters, aber auch viel Kraft im schweißtreibenden Handwerk.

Kirchenglocken sind Weltkulturerbe

Die aus Duderstadt stammende Familie Otto nimmt eine herausragende Stellung unter den deutschen Glockengießern ein. Von 1874 bis in die 1970-er Jahre wurden über 8600 Otto-Glocken produziert. Mit Gießereien in Hemelingen/Bremen, Breslau und Saarlouis gehörten die Ottos zu den bedeutendsten deutschen Bronzeglockengießern des 19. und 20. Jahrhunderts.

 

 

 

Mit der Familien- und Firmengeschichte der Glockengießerei Otto promovierte Gerhard Reinhold 2019 unter dem Titel „Kirchenglocken – christliches Weltkulturerbe, dargestellt am Beispiel der Glockengießer Otto“ an der Radboud Universiteit Nijmegen.

 

Duderstadt, der Geburtsort der Brüder Franz und Carl Otto, Begründer der Glockengießer-Dynastie (Sammlung G. Reinhold)

 

Dass der Autor bei seinen Nachforschungen sogleich auf Duderstadt stieß, lag nicht nur am Geburtsort der Brüder Carl und Franz Otto. Auch die erste Publikation über die Glockengießerei Otto in Hemelingen/Bremen wurde in Duderstadt veröffentlicht, und zwar 1924 vom Eichsfelder Heimatforscher Karl Wüstefeld, gedruckt im Duderstädter Verlag Aloys Mecke.

 

Archiv Mecke Druck und Verlag

 

Franz Otto (Jahrgang 1833) und sein jüngerer Bruder Carl (Jahrgang 1838) wurden als Söhne eines Schuhmachers in der Obertorstraße 72 geboren. Das Haus steht heute allerdings nicht mehr. Es fiel dem großen Brand 1911 zum Opfer.

 

Nach dem Brand in Duderstadt am Obertor am 4. September 1911. Links das zerstörte Wohnhaus der Familie Otto (Stadtarchiv Duderstadt)

 

Franz trat zunächst in die Fußstapfen des früh verstorbenen Vaters und wurde Schuhmacher. Carl absolvierte das Progymnasium in Duderstadt und besuchte dann das bischöfliche Gymnasium Josephinum in Hildesheim. Dort kam er als musikalisch begabter Schüler zum ersten Mal mit der Glockengießerei in Berührung. Die Faszination für diese Kunst sollte ihn sein ganzes Leben begleiten. Obwohl Carl schließlich Priester wurde, besuchte er diverse Gießereien und entwickelte ein umfangreiches theoretisches Wissen.

Im Oktober 1863 war er als Aushilfspriester in Gieboldehausen tätig, im November trat er seine erste Kaplanstelle in St. Pankratius in Fuhrbach an. Er veröffentlichte mehrere Schriften über historische Glocken im Eichsfeld, später auch zu anderen Glocken-Themen. So machte sich Carl Otto einen anerkannten Namen in der Glockenkunde.

1866 wurde er von der Diözese Hildesheim in den Norden geschickt. Die wachsende Industrie rund um Bremen zog viele Arbeitskräfte aus strukturschwachen Regionen an. Die arbeitssuchenden Eichsfelder bildeten eine starke Gruppe unter den Zugezogenen. Im Bremer Stadtteil Hemelingen wurde eine kleine Missionarsstation gegründet, die Carl Otto leitete.

Franz hatte in Duderstadt geheiratet, jedoch starb seine erste Frau, und er musste als Witwer vier kleine Kinder ernähren. Mit seiner zweiten Frau, Caroline Kopp, folgte er seinem Bruder nach Hemelingen. Carl überzeugte ihn, eine gemeinsame Glockengießerei zu gründen. 1873 wurde dieser Plan in die Tat umgesetzt – und hatte außergewöhnlichen Erfolg. Fast 100 Jahre sollte die Gießerei Otto bestehen.

 

Otto-Gießerei in Hemelingen 1926 (Sammlung G. Reinhold)

 

Franz Otto war der Geschäftsmann, Carl der Glockenkenner. Die Otto-Glocken machten sich schon kurz nach der Gründung der Gießerei einen Namen. Carl hatte sich ausführlich mit der Glockenrippe, sozusagen dem Glockenprofil, beschäftigt. Die Rippe ergibt sich aus dem Verhältnis von Höhe und Umfang der Glocke sowie Form und Dicke der Glockenwand. Carls Wissen, sein physikalisches Verständnis und gutes Gehör für den exakten Ton machten die Otto-Glocken zu wahren Verkaufsschlagern. Ihre Herstellung umfasst in Gerhard Reinholds Werk ein mehr als 20-seitiges Kapitel mit vielen Details und außergewöhnlichem Bildmaterial.

 

Die „Geburtsstunde“ einer Glocke (hier die 3. Brema in Hemelingen, 1962) wurde nach altem Brauch von Segensgebeten begleitet. (Sammlung G. Reinhold)

 

Zu Duderstadt hatten Carl und Franz Otto eine ganz besondere Beziehung. Die Brüder sowie die Kinder des letzteren, also die ersten beiden Generationen der Otto-Glockengießer-Dynastie, wurden in St. Cyriakus getauft. Für die Heimatstadt der Ottos wurden folgende Glocken gegossen:

– 1909 Ursulinenkloster 1 Glocke
– 1922/23 St. Cyriakus 5 Glocken
– 1923-25 Konvikt Gregorianum (heute Haus St. Georg) 1 Glocke
– 1928 St. Servatius 2 Glocken
– 1931 St. Cyriakus 2 Glocken
– 1951 St. Cyriakus 4 Glocken
(Als Quelle wird bei Reinhold u.a. genannt: „Aus der Duderstädter Glockengeschichte“, Duderstadt 2011, Hrsg. Glockenbauverein St. Cyriakus)

 

 

In den Duderstädter Kirchen läuteten Otto-Glocken, von denen einige im Krieg eingeschmolzen wurden (Sammlung G. Reinhold)

 

Auch dem Schicksal der Otto-Glocken widmet sich Gerhard Reinhold ausführlich. In St. Servatius wurden die alten Glocken beim großen Brand in Duderstadt am 17. Juni 1915 zerstört. Wegen der finanziellen Notlage nach dem Ersten Weltkrieg konnten erst 1928 zwei neue Glocken für die evangelische Kirche bestellt werden – bei der Firma Otto. Die größere wurde 1942 für Kriegszwecke eingeschmolzen, die kleinere nach dem Krieg an die Münsterkirche St. Alexandri in Einbeck verkauft.

 

Glockenweihe in Duderstadt, St. Servatius, 1928 (Sammlung Hövener)

 

In Duderstadt gibt es heute noch fünf Otto-Glocken in der Basilika St. Cyriakus. „Die Neubeschaffungen der Glocken nach dem 2. Weltkrieg wurden im Jahr 1951 begonnen. Bei Otto in Hemelingen konnten vier Glocken gegossen werden. 2011 folgten dann die beiden noch fehlenden großen Glocken, gegossen bei der Glockengießerei Bachert in Karlsruhe“, erklärt der Duderstädter Ortsheimatpfleger Herbert Pfeiffer, der auch wesentlich an der Publikation „Aus der Duderstädter Glockengeschichte“ (2011) mitgewirkt hatte.

 

Der Fuhrbacher Kirchenvorstand lobte schon 1882 die Qualität der Otto-Glocken

 

Weitere Lieferungen der Otto-Glocken im Eichsfeld gingen nach Breitenberg (St. Mariä Verkündung), Desingerode (St. Mauritius), Fuhrbach (St. Pankratius), Wallfahrtskirche Germershausen, Heiligenstadt (St. Marien), Hilkerode (St. Johannes Baptist), Neuendorf, Rhumspringe (St. Sebastian), Rüdershausen (St. Andreas), Wingerode (St. Johannes der Täufer), Wollbrandshausen (St. Georg) und Worbis (St. Nikolaus).

 

Otto-Glocken werden ins Eichsfeld geliefert, hier für St. Cyriakus, 1951 (Pfarrarchiv St. Cyriakus)

 

1884 wurde Carl Otto als Seelsorger zurück ins Eichsfeld nach Desingerode geschickt. Dort fühlte er sich jedoch nicht mehr heimisch und fand auch keinen guten Draht zur Gemeinde. 1910 bat er den Bischof um seine Pensionierung, zog zurück nach Bremen und schließlich nach Düsseldorf Wersten, wo er 1917 starb.

Franz Otto starb bereits 1889 an einem Schlaganfall. Seine Söhne Karl und Ferdinand führten den Betrieb fort und wurden von ihrem Onkel Carl bis zu dessen Tod unterstützt und beraten. In fast 100 Jahren des Bestehens der Glockengießerei Otto in Hemelingen, und mit weiteren Produktionsstätten in Breslau und Saarlouis, wurden über 8.600 Otto-Glocken gegossen. Zehn männliche Familienmitglieder in mehreren Generationen wurden Glockengießer.

 

Altes Gießerzeichen der Ottos
Neues Gießerzeichen der Ottos (Sammlung G. Reinhold)

 

Die 600 Seiten umfassende Dokumentation „Otto-Glocken“ von Gerhard Reinhold wurde in einer limitierten und handsignierten Auflage von nur 250 Stück veröffentlicht, kunstvoll gestaltet bei „artkonzeptkörner“. In zwei Werkverzeichnissen am Ende des Buches werden 8.600 Glocken mit Quellenangaben aufgeführt, dazu 500 Klanganalysen aus 100 Jahren und 300 Glockeninschriften, zum Teil kommentiert. 640 größtenteils historische Fotos, 120 Tabellen und Grafiken, 52 Dokumente und 23 historische Postkarten machen das Werk einzigartig. Doch vor allem die Lebensläufe vor zeitgeschichtlichen Hintergründen lassen die Familiengeschichte der Glockengießer mit Eichsfelder Wurzeln lebendig werden.

 

 

Ein kleines Begleitheft führt in die Dokumentation ein.

Bei der Recherche in Duderstadt halfen insbesondere der Verleger Helmut Mecke und der Duderstädter Ortsheimatpfleger Herbert Pfeiffer. Des Weiteren werden genannt: der ehemalige Duderstädter Stadtarchivar Dieter Wagner, Stadtarchivar Hans-Reinhard Fricke und der Desingeröder Ortsheimatpfleger Reinhard Schulzig. Daten über Familie Otto gibt es u. a. im Duderstädter Stadtarchiv, im Taufregister von St. Cyriakus sowie in zum Teil historischen Veröffentlichungen aus dem Eichsfeld.

 

Weiterführende Literatur: Auszüge „Aus der Duderstädter Glockengeschichte“ (2011) von Ortsheimatpfleger Herbert Pfeiffer:

Über die Umstände der Schallplattenaufnahme 1940 vom Geläut St. Cyriakus

Herbert Pfeiffer – Geläut von St. Cyriakus Schallplattenaufnahme 1940 Telefunken 

 

Zur Wiederherstellung eines Stadtgeläuts

Herbert Pfeiffer – Historie der Glocken in Duderstadt

 

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